Confessions

of the

Disobedient

Was ist Ungehorsam? Ist Ungehorsam menschlich?

Muss man Gesetze brechen um Ungehorsam zu sein?

Ist das Hinterfragen des Status Quo schon ungehorsam?

Ist das brechen mit Werten, Normen und Verhaltensmustern schon ungehorsam?

Trägt Ungehorsam zur persönlichen Identitätsbildung bei? Ist es dafür vielleicht sogar notwendig?

Wie definieren wir ungehorsam? Sollten wir alle ungehorsam sein?

Ist Sucht eine Form des Ungehorsam? Was ist mit dem Gehorsam gegenüber der Sucht?

Was ist wichtiger? Moral oder Gesetz? Führt Ungehorsam zu einem besseren Leben?

Was ist guter und was ist schlechter Ungehorsam?

Wessen Grenze überschreite ich mit meinem Ungehorsam?

Was sind Werte? Was ist Moral? Wo sind meine Grenzen?

Habe ich schonmal gegen meine eigenen Moral- und Wertvorstellungen verstoßen?

Was sind Motivation und Intention von Ungehorsam?

Was bedeutet Sicherheit für mich? Ist Nicht-Handeln auch Handeln?

Was machen wir, wenn unsere Werte nicht zu unserer Umwelt passen?

Warum gibt es online nur die Definition von Gehorsam?

Gibt es Berufe, die Ungehorsam voraussetzen? Was sind die Auslöser für Ungehorsam?

The Voices.

Ungehorsam gäbe es nicht ohne Menschen. Deshalb sind es die Stimmen derer, die vielleicht Regeln überschreiten, sich selbst reflektieren und über sich hinauswachsen, die Veränderung schaffen. Es geht nicht darum, wie interessant die Geschichte oder wie groß das Ausmaß des Ungehorsams an sich ist, sondern viel mehr um den Sinn dahinter, die Botschaft, das Ziel. Es geht nicht darum, wie viel jemand zu sagen hat, sondern was der Inhalt ist.

Diese Stimmen müssen nicht laut sein, um Präsenz zu zeigen. Sie müssen echt sein. Und all diese Geschichten, ob gegenüber sich selbst oder anderen, sind „Confessions of the Disobedient“.

„Ungehorsam ist wichtig, um sich selbst weiterzuentwickeln. Unser Ungehorsam ist das, was uns ausmacht.“
NORA

„Im Künstlerischen denke ich oft ungehorsam, ich möchte gerne mehr Regeln brechen.“
LUCA

Junior

In seiner Crew wird er als “Junior” bezeichnet, da er mit 25 Jahren der Jüngste aus der Truppe ist. Seine Hobbies sind zeichnen und sprayen, besser gesagt: “Wir gehen Malen”. Mit seiner Crew, die als CSK (Commando Snitch Killer) bekannt ist und 2014 gegründet wurde, geht er hin und wieder auf Streife um zu sprayen. In der Gruppe befinden sich 5 bis 10 Personen. Manche aktiver, die anderen weniger. In der Gruppe unter sich wird ausschließlich der Gruppen-Name gesprayt und nicht der eigene Künstlername. Hier wird bewusst die Unterschrift weggelassen und teilweise auch die einzelnen Buchstaben, C, S, und K, von unterschiedlichen Personen gesprayt, um die Strafverfolgung zu erschweren. Sie haben deswegen auch lange hin und her überlegt, ob sie eine Online-Präsenz anstreben und waren eher negativ demgegenüber eingestellt. Jedoch haben die meisten Sprayer, die in der Szene sehr bekannt sind, eine Online-Präsenz, weshalb sie sich nun doch für eine solche entschieden haben und veröffentlichten am 01. September sogar ihren ersten Instagram Post.

Arbeitsleben

Junior hat die Fachhochschule im Bereich Gestaltung erfolgreich abgeschlossen und befindet sich derzeit in einem festen Arbeitsverhältnis. Anzumerken ist auch, dass sich alle Crew-Mitglieder in festen Arbeitsverhältnissen befinden, aber der schulische Werdegang stark variiert.

Einstieg in die Kunst

Junior sagt, dass er schon vor der Schulzeit von seiner Mutter stets mit Stiften versorgt wurde und so schnellen Bezug zur künstlerischen Szene erlangt hat. Jedoch fing er verhältnismäßig schnell an, auch fragwürdige Themen zu Papier zu bringen. Er ist in der Grundschule unter anderem im Kunstunterricht aufgefallen, da er zwei sich prügelnde Menschen gezeichnet hat, was die Lehrer gar nicht gefreut hatte.

Sprayer Szene

Es hat alles im 11. Lebensjahr angefangen, also ca. in der 5. Klasse, als ein Freund, den Junior schon seit der Grundschule kennt, mit einem anderen Kollegen einen Abstecher zu einer legalen Wand gemacht hat, um dort zu sprayen. Eines Tages meinte Juniors Freund, dass er doch auch mal mitkommen solle und ist mit den beiden direkt mitgegangen. Vor Ort habe man nach Resten in Spraydosen gesucht, die von vorherigen Sprayern in den Müll geschmissen wurden, um diese noch auf die Wand zu bringen. Aktuell, so meint Junior, hat er mit seinem Grundschulfreund immer noch Kontakt, jedoch ist dieser nicht mehr in der Sprayer-Szene aktiv.

Erlebnisse

„Ich habe so vieles erlebt.”, sagt Junior. Eines seiner merkwürdigsten Erlebnisse war, als er an der Autobahn an einer Lärmschutzmauer gesprayt hat und zu seinem Kollegen wundernd sagte: „Ist es nicht merkwürdig, dass seit 3 Minuten kein einziges Auto auf einer sonst so viel befahrenden Autobahn entlanggefahren ist?” Sein Kollege meinte nur, dass er weitermachen und sich nichts dabei denken solle. Augenblicke später sehen sie aus weiter Distanz Blaulicht auf sie zukommen und legten sich auf den Boden, um nicht entdeckt zu werden. Es hat sich jedoch herausgestellt, dass nicht sie das Blaulicht verursacht haben, sondern ein Fertig-Haus, was die gesamten Spuren eingenommen und so den Verkehr aufgehalten hat.

Kontakt mit der Polizei

„Schon öfter“, sagte Junior mit einem Grinsen im Gesicht. Bei ihm stand, nach einem Ermittlungsverfahren, die Polizei vor der Tür, um seine Sachen einzusammeln, die im Zusammenhang mit seinen Tätigkeiten stehen könnten. Darunter zählen Skizzen, Fotos, sein Handy, Computer, Bücher und vieles mehr. Diese hat er jedoch nach stolzen 18 Monaten wieder zurückbekommen.
Junior meinte, dass er schon einige Male kurz vorm Sprayen von der Polizei erwischt wurde. Eines Tages, als er zu einem Industriegebiet gefahren ist, welches sehr abgelegen und eher selten befahren wird, fährt aus dem nichts ein Polizeiauto vor. Als er und sein Kollege von der Polizei befragt wurden, konnte sein Kollege die beiden aus der Geschichte rausreden mit den Worten, dass sie doch nur zu einer Disko gehen wollten, die er glücklicher Weise auch beim Namen nennen konnte.

Trains

Züge hat Junior schon mehrfach in seiner Sprayer-Laufbahn besprayt. „Rollende Untergründe” sind in der Sprayer Szene sehr hoch angesehen, da dies mit viel Planung verbunden ist. Zusätzlich erwähnte er, dass nicht alle rollenden Untergründe zum Sprayen geeignet sind. Dampfloks stammen nicht aus der Zeit vom Graffiti und man setzt eher rote Züge mit dem Sprayen in Verbindung, weshalb diese auch bevorzugt werden.

Graffiti Schlauchboot und Zaun aufbrechen

Seine krasseste Story ereignete sich aber auf Basis eines spontanen Anrufes von einem Kollegen, welcher wohl recht angesehen in der Sprayer-Szene ist. Junior wurde von ihm mit einem Auto, welches fast in seine Einzelteile zerfällt, abgeholt. Nach stundenlanger Fahrt bemerkte Junior, dass sie sich über holländischen Boden bewegten und es auch schon langsam dunkel wurde. Als sie angekommen sind, ist Junior direkt ein Schlauchboot aufgefallen, was sein Kollege und dessen Truppe mitgebracht hatten. Sie standen vor einem Fluss und dahinter ein Zug, welcher zusätzlich von einem Zaun „geschützt“ wurde. Hier kommt das Schlauchboot ins Spiel. Einer der Gruppe ist zuerst mit dem Schlauchboot über den ca. 5 Meter breiten Fluss gefahren. Dieses Gruppenmitglied hatte das nötige Wissen, um den dahinterstehenden Zaun aufzubrechen. Der Rest der Truppe wurde anschließend über den Fluss gefahren, um ihrer Leidenschaft nachzugehen und den Zug zu besprayen.

Bekenntnis zur Ungehorsamkeit

In Bezug zum Graffiti kann Junior sagen, dass er anfangs einen Adrenalinkick hatte. Dieser hat sich aber recht schnell durch die Routine relativiert. Die Anspannung, so Junior, kommt eher durch das geringe Zeitfenster während des Sprayens und er sieht seine Leidenschaft eher als Hobby, anstatt eines Bekenntnisses zur Ungehorsamkeit.

Dauer eines Werkes

Dies kann stark variieren. Wenn man sich einen illegalen Untergrund ausgesucht hat, wird alles von vorne bis hinten durchgeplant. Es gibt sogenannte „Supporter”, welche unter anderem Wache halten, dann muss von jemandem vorher vor Ort recherchiert werden, wann die zuständigen Wachleute ihren Arbeitsplatz verlassen, das Motiv muss von vornherein feststehen und so weiter. Die Planung nimmt viel mehr Zeit in Anspruch, als letztendlich die Aktion. Bei einem illegalen Untergrund spricht man so von ca. 30 – 45 Minuten, bis das Werk fertig sein muss, länger nicht. Bei einem legalen Untergrund kann es mehrere Stunden dauern.

Message oder Ästhetik

Unterschiedlich. Junior sagt, dass seine Kunstwerke meistens keine Botschaft haben. Ihm geht es eher darum, in der Sprayer Szene präsent zu sein, oder auch in seinen Worten:
„Ich bin da, guck‘ mal, wie krass ich bin”.

Graffiti Schlauchboot und Zaun aufbrechen

Charakteristische Veränderungen

Schwer einzuschätzen meint Junior. Dennoch sagt er, dass er unter Arbeitskollegen teilweise nicht über diverse Sehenswürdigkeiten von Städten oder Ländern mitreden kann, da er die Sehenswürdigkeiten meistens nicht zu Gesicht bekommt, sondern nur Züge, Mauern oder sonstige Dinge die man besprayen kann. Andererseits ist er ein wenig paranoid geworden, da jederzeit die Polizei vor der Wohnung stehen könnte.

Das möchte ich noch tun

Es gibt so einiges, was er noch machen würde. Ihm fehlt nur Zeit und Geld. Er sagte, dass Italien wohl das „Land der Züge” in der Sprayer Szene sei, da man dort entspannt die Züge besprayen kann. In Italien werden die Züge wohl nicht bewacht und auch Überwachungskameras sind eher eine Seltenheit. Deshalb ist das eine der vielen Tätigkeiten, die er machen würde, wenn Zeit und Geld keine Rolle spielen würden.

Ungehorsam im Alltag

„Normalerweise halte ich mich an Regeln und bin auch kein Hau-drauf-Typ.”, sagt Junior. Er kann Gewalt absolut und in jeglicher Form nicht unterstützen. Dennoch kann er jeden verstehen, der ab und zu die Regeln bricht, um außergewöhnliche Dinge zu vollziehen.


Beitrag von Luca Knoop

„Ungehorsam sollte nicht gewaltsam sein.“
MARIE

„Ab dem Punkt, ab dem es Regeln gibt, gibt es auch Ungehorsam.“
LEVIN

ADHS. Eine Krankheit, die mich seit meiner Kindheit begleitet. Was ist das eigentlich? Was macht das mit mir und bin ich deswegen ungehorsam?

AUFMERKSAMKEITS-
DEFIZIT-
HYPERAKTIVITÄTS-
STÖRUNG

Ich war selbst noch viel zu klein, als das ich verstand, was genau ich habe und warum ich es habe. Kurz nach meiner Diagnose hatten meine Eltern endlich Gewissheit. Am Anfang der zweiten Klasse war es soweit.

ADHS auch genannt Aufmerksamkeits-Defizit- Hyperaktivitätsstörung ist eine sehr häufig vorkommende Krankheit bei Kindern und Jugendlichen. Knapp 5% der Kinder in Deutschland werden damit diagnostiziert. Die Krankheit zeichnet sich, wie der Name schon sagt, durch Aufmerksamkeit - und Konzentrationsstörungen aus. Häufig kommen ausgeprägte körperliche Unruhe und impulsives/ unüberlegtes Verhalten dazu. Den Betroffenen fällt es oft schwer, sich selbst zu regulieren.

Im Kindergarten gab es schon die ersten Anzeichen meines Fehlverhaltens. Ich war nur für mich, wollte nie an Aktivitäten teilnehmen. Wollte nicht klettern, nichts vorgelesen bekommen, nicht mit den anderen spielen und wirklich nichts tun, als mich mit mir selbst zu beschäftigen.

In der Grundschule wendete sich das Blatt und die Verschlossenheit entwickelte sich in tagtägliches Stören und Aufmerksamkeit suchen. Ich habe im Unterricht nie mitgemacht und lieber mit dem Stuhl gekippelt, meine Sachen zusammengepackt und versucht, andere abzulenken. Meine damalige Klassenlehrerin merkte sehr schnell, das da was nicht stimmt. Noch in der ersten Klasse sagte man meinen Eltern, dass mein Verhalten nicht mehr tragbar sei und sich was ändern müsse. Sie sollten mit mir zum Arzt gehen.

ADHS zeigt sich oftmals zuerst in den alltäglichen Situationen und Strukturen dieser Gesellschaft. Das heißt, sobald ein Kind in den Kindergarten spätestens in die Grundschule muss und sich dort anderen Menschen und den Regeln anpassen sollte, werden die Verhaltensauffälligkeiten deutlich.

Zuerst versuchten meine Eltern mit mir darüber zu sprechen und das Problem von zu Hause aus zu klären. Es selbst in die Hand zu nehmen und dann wird das schon. Meine Verhaltens- und Konzentrationsstörung war jedoch schon so weit ausgeprägt, das es nicht anders ging, als einen Arzt aufzusuchen.

Zu diesem Zeitpunkt wurde mein Verhalten schlimmer. Zu Hause war ich immer aufgebrachter und konnte nie zur Ruhe kommen. Alles was man mir sagte, habe ich ignoriert. Meine Mutter versuchte auf mich einzureden und musste letztendlich bei allem, was ich machen sollte, dabei sein. Morgens aufzustehen, mittags Hausaufgaben machen und Abends wieder ins Bett zu gehen hätte ich von alleine nicht gemacht. Auch nicht nach mehrmaliger Aufforderung. Meine Mutter nahm mich an die Hand und begleitete zu Hause jeden Schritt.

Kindern mit ADHS fällt es sehr schwer die notwendige Fähigkeit der Selbststeuerung zu erlernen. Dafür brauchen sie besondere Unterstützung. Es ist die Struktur und der Tagesplan, der für Kinder mit ADHS sehr wichtig ist. Die konkreten Bedingungen unter denen die Kinder aufwachsen, können den Verlauf der Erkrankung stark beeinflussen. Die Bewältigung alltäglicher Anforderungen, wie Anziehen, Essen oder Erledigung der Hausaufgaben bedarf ständiger Kontrolle.

KONTROLLE.

Etwas zu verbieten und mich zu bestrafen, war jedoch auch nicht der richtige Weg. Ich bin ausgeflippt und habe oftmals um mich geschlagen, gegen die Tür getreten und laut aufgeschrien. Meine Mutter konnte mich nicht beruhigen. Sie musste mich mit beiden Armen umklammern und festhalten.

ADHS Betroffene verstehen oft selbst nicht, was los ist, was sie falsch machen. Auch wenn das Verhalten häufig auf Unverständnis stößt, können durch Strafen, Ermahnung und Appelle keine Veränderungen erreicht werden.

Es folgte der Arztbesuch. Nach der ersten Untersuchung wurde die Konzentrationsschwäche bereits festgestellt. Die Frage, die man sich nun stellt: Wie konnte man mich dazu bringen, weniger zu stören? Mir wurde Ritalin verschrieben. Ab jetzt hieß es: Tabletten, jeden Tag, für die nächsten sechs Jahre. Morgens vor der Schule. Die Wirkung hielt bis zum Nachmittag an und dann sollte man Tablette Nummer zwei nehmen. Meine Mutter wollte nicht, das ich so mit Tabletten vollgepumpt werde. Also nahm ich nur eine am Tag.

RITALIN

Ritalin ist ein verschreibungspflichtiges Medikament. Es wirkt anregend, unterdrückt Müdigkeit und wirkt antriebs- und leistungssteigernd. Das macht es jedoch auch zu einer beliebten Droge bei Jugendlichen und Studenten, die Ritalin zum Lernen missbrauchen. Ritalin heilt ADHS nicht, sondern unterdrückt lediglich die Symptome, die mit dieser Störung einhergehen. Das Medikament muss also dauerhaft eingenommen werden.

Mit den Tabletten wurde es besser. Sobald die Wirkung im laufe des Tages nachlies, wurde ich aber wieder zum Unruhestifter. Es half also nur, solange ich unter der Wirkung stand. Dem waren sich meine Eltern bewusst und sie nahmen es in kauf, damit ich nicht noch eine Tablette mehr nehmen muss. Jeden Freitag gab es ein Gespräch, zwischen meiner Klassenlehrerin und meinen Eltern, mein Verhalten wurde beobachtet. In der Schule lief es. Ich fiel weniger auf, meine Noten wurden besser. Ich habe mich besser integriert.

In der achten Klasse habe ich die Tabletten aus eigenem Willen nicht mehr nehmen wollen. Ich sagte, dass ich sie nicht mehr nehmen möchte und nicht darauf angewiesen sein will, mich nur durch Tabletten konzentrieren zu können. Nur mit Tabletten Teil der Gesellschaft zu sein. Meine Leistungen fielen in folge dessen jedoch sehr schnell wieder ab. Meine Eltern waren besorgt, dass ich in eine Unzufriedenheit abrutsche und sehr schnell merke, dass ich alleine nicht klar komme.

Nach anfänglichem Tief schaffte ich es aber, meine Konzentration über den Tag aufrechtzuerhalten. Ich habe es geschafft, von alleine zu lernen und mein großes Glück war die frühe Erkennung im Kindesalter durch Unterstützung meiner Eltern und Klassenlehrerin. Auch wenn es ab dem Zeitpunkt der Erkennung noch bis zur achten Klasse angedauert hat, war es wichtig, das Problem so schnell und so lange anzugehen. Nur dadurch konnte ich mich ab einem gewissen Alter selbst fangen und es von mir aus schaffen, meinen Alltag zu gestalten und mich auf die wichtigen Dinge zu fokussieren. Denn bei einem großen Teil der Betroffenen nehmen die Symptome nach richtiger Behandlung mit Beginn der Pubertät ab.

War ich in folge dessen ein ungehorsames Kind? Andere würden sagen, ich war ungehorsam. Kinder werden in den Augen anderer als ungezogen und unartig bezeichnet, obwohl sie für ihr Verhalten selbst nichts können. Aus Sicht der Gesellschaft ist es eine Art der Ungehorsamkeit, da man nicht das macht, was verlangt wird. Da man in der Schule nicht richtig aufpasst, den Unterricht stört und andere ablenkt.

Aber eigentlich hängt es vom Auge des Betrachters ab.

Denn aus meiner Sicht war ich alles andere als ungehorsam. Ich habe mich nur so verhalten, wie es eben aus mir rauskam. Ich konnte nichts für mein Verhalten. So auch jeder andere Mensch mit dieser Krankheit. Ungehorsam aus Sicht der Gesellschaft – ein normales Kind aus der eigenen Sicht.

„Man muss sich die Frage stellen, ob man ungehorsam mit sich selbst vereinbaren kann.“
ERIC

„Ist etwas ungehorsam, wenn es gar keinen Einfluss hat?“
ANTON

„Regeln sind zum Brechen da.“
JOENNA

Auf die Frage nach einer Definition von Ungehorsam antwortete er nichts.
JANNES

„Jeder Mensch hat seine eigenen moralischen und ethischen Grenzen.“
TOBI

„Ungehorsam ist mehr, als nur Regeln brechen, es hat eine große Tragweite. Ungehorsam ist etwas, das raum- und zeitlos ist.“
DANI

Du
bist ein
geiler Macker."

Auf das Thema „Ungehorsam“ angesprochen, würde ich vermutlich Folgendes antworten: „Ich habe kein Problem mit Gehorsam, so lange die Regeln, die ich zu befolgen habe, mir einleuchten. In dem Moment, wo ich sage, das ist ja völliger Blödsinn, halte ich mich auch einfach nicht an die Regeln.“

Was früher bloßes Grenzen Austesten im Straßenverkehr war, statt 80 km/h bei trockener freier Straße 140 km/h zu fahren, ist heute anders, sagt Reimar.

Man testet natürlich aus, ob man Regeln nicht ein bisschen umbiegen kann. Und ich glaube, würde man das nicht machen, dann hätte die Menschheit noch nicht das Rad erfunden.

Früher hätte er sie einfach überschritten, doch heute:

Heute versuche ich sozusagen in einer Diskussion mit den Regelgebern auszuloten: Warum sind die Regeln so und wäre es nicht viel sinnvoller, die Regeln abzuändern? Ich bin ruhiger geworden.

Wie an seinem Titel unschwer zu erkennen, ist Reimar Arzt von Beruf. Ich möchte wissen, wie es dazu kam, dass er diesen Weg eingeschlagen hat. Der Auslöser:

Ganz ulkiger Weise die Ölkrise in den 70er Jahren. Das hat mich damals als Kind fürchterlich geschockt und ich habe gedacht: Wenn irgendwie gar nichts mehr geht, wen braucht man auf jeden Fall? Und da fiel mir ein: Arzt. Ich wollte irgendwann auch mal Pilot werden, war dann schon 1,92 m groß und habe an die Lufthansa geschrieben.

Die Antwort kam schnell: „Mit 1,92 m können Sie´s nicht werden.“ Also folgte er dem Gedanken im Hinterkopf und ist heute sehr dankbar, diesen wunderbaren Beruf erlernt haben zu dürfen. Doch die jahrelange Arbeit stellt auch Aufgaben und ebnet den Weg für Kollisionen mit den ein oder anderen Richtlinien. Aber widersetzen?

Ich sage immer zu den Medizinstudent*innen, die bei mir ausgebildet werden: Es gibt eben nicht das große Buch des Menschen, es wird permanent neu geschrieben, in allen Kapiteln. Und irgendwelche Regeln oder Richtlinien, die wir heute haben, sind dank Forschung und neuen Studien morgen schon Makulatur.

Insbesondere mit den Leitlinien der Wiederbelebung geht Reimar anfangs nicht konform. Was für ihn zählt: Leben retten, um jeden Preis.

Wenn ich jetzt irgendwo vor Ort bin und da liegt ein Mensch Puls los, mit anderen Worten klinisch tot, hat keine sicheren Zeichen des Todes: Rock’n’Roll. Dann fange ich an.
In erster Linie sind die Patienten so sauer vom pH-Wert, Adrenalin wirkt in dem Moment kaum noch. Ich puffer die meisten blind vor und ich kriege sie auch eigentlich alle wieder. Das hat mich damals wahnsinnig stolz gemacht und dachte immer, seht her, ich bin hier der geilste Macker von allen.

Doch nicht jede Reanimation ist folgenlos. Als Reimar einmal begann, nachzufragen, wird ihm zugetragen:

REANIMATION.

Ja, er hat zwar überlebt, aber einen mächtigen Hirnschaden. Dieser Patient wird nie wieder ein unabhängiges, lebenswertes Leben führen. Da habe ich dann über meine Regelüberschreitungen nachgedacht - Vielleicht hat man diese Regeln auch aufgestellt, um genau das zu verhindern. Soll heißen, mit einer gewissen Aggressivität kriegst du zwar die Menschen wiederbelebt, aber vielleicht nicht unbedingt zu ihrem Besten.
Tatsächlich passiert es regelmäßig. Es kommt ein Patient mit Beschwerden in die Praxis und du weißt, wie du ihm helfen könntest. Aber du darfst es nicht mit den Medikamenten machen, weil dieses Medikament für genau diese Indikation gar nicht zugelassen ist. Das heißt, manchmal muss man die Diagnosen etwas weiter fassen, damit man die Behandlung genehmigen kann. Ja, in gewisser Weise ist es ungehorsam, dass ich dann dem Patienten ein bisschen die Diagnose frisiere, um ihm das Medikament verordnen zu dürfen.

Mit zweimal Zwillingen im Abstand von einem Jahr hat sich sein Leben schlagartig verändert. Mit seinen 4 Kindern fühlt es sich an, als hätte man jeden Tag Kindergeburtstag. Doch einen Punkt gibt es, wo Reimar den jungen Menschen mehr Ungehorsam raten würde.

ZUKUNFT.

Ich habe mich eigentlich immer auf die Zukunft gefreut. Ich habe nie Angst vor der Zukunft gehabt, weil ich mir immer gesagt habe, dass ich meine Fähigkeiten kenne und weiß, dass ich es schaffen kann, Probleme aus dem Weg zu räumen.
Bei euch jungen Menschen finde ich häufig so eine Angst vor der Zukunft, wo ich mir sage: Ihr müsst keine Angst haben, ihr habt doch Fähigkeiten und ihr seid nicht allein. Geht raus in die Welt und erobert sie euch und macht sie ein Stück besser. Sorgt dafür, dass die Leute nicht weiterhin ungeniert Waffen produzieren, Öl verbrennen und so weiter. Terrorisiert uns mit euren Forderungen. Geht raus und tut´s. Ihr werdet feststellen, man fällt fünf Mal auf die Fresse, aber sechs Mal gewinnt man.
Es ist so, von 10 Menschen haben 3 den Kopf zu mehr, als zum Haare waschen, aber mit den anderen 7 muss man irgendwo auch zurechtkommen. Und wenn du positiv gestimmt durchs Leben gehst, dann schaffst du es, im Kopf so umzuswitchen, dass die 3 Vernünftigen dir vorkommen, wie die 70%. Zeit hat man nicht, Zeit muss man sich nehmen. Wir haben alle keine Zeit. Wir entscheiden irgendwann für uns selber, ob wir uns Zeit nehmen wollen oder nicht. Und ulkiger Weise ja, das geht damit einher, dass du etwas weniger Geld verdienst, aber auf der anderen Seite ein glücklicherer Mensch wirst. Und wenn du glücklicher wirst, dann guckst du mit Bedauern auf die armen Schweine, die zwar ein viel fetteres Bankkonto haben, aber so viel unglücklicher sind.

Nicht nur in seiner Hausarztpraxis in Pahlen, in der er seit mehr als 11 Jahren tätig ist, geht Reimar seiner Berufung nach. Über 14 Jahre dient er der Bundeswehr als Reservist, nahm an 3-4 Wehrübungen im Jahr teil. Doch wie kam es dazu?

Ich fand die Bundeswehr damals ganz furchtbar. Ich war in der Panzergrenadiereinheit, absolute Rödel Truppe. Wir hatten noch Ausbilder, die irgendwo Neonazis waren. Das war damals noch eine Kadaver-Armee. Also Befehl und Gehorsam bis zum Abwinken. Und dann, Jahre später, treffe ich auf einer Fortbildungsveranstaltung, in einem scheißverschneiten Februar, in Bad Segeberg, einen Arzt. Wir alle laufen wie die Mehlwürmer rum und er ist braungebrannt. Ein niedergelassener Arzt, aber Reservist für die Bundeswehr. Dann habe ich kackfrech an die Bundeswehr geschrieben und meine Expertise angeboten.
Vielleicht hat das so ein bisschen was mit Abenteuer zu tun und die Regeln zu biegen. Normalerweise bin ich mit meinen zwei Metern Ortdienst-verwendungsuntauglich. Aber weil es nicht genügend Ärzte gibt, auch besonders keine Ärzte, die Bock haben, auf einer Fregatte einzusteigen, sind die ganzen Regeln zwar weiterhin existent, werden aber gerne mit einer Ausnahmegenehmigung außer Kraft gesetzt. Zur See zu fahren, das hat schon was.

Die Bundeswehr eröffnet Reimar, dass sie ihn für eine Beförderung zum Oberstarzt vorsehen, die höchste Stelle, die als Reservist erreichbar ist. Das bedeutet, dass seine Expertise zukünftig nur noch als Fachlehrer gebraucht wird und für Arbeit im Stab. Dazu findet er klare Worte:

Das will ich nicht. Ihr könnt mich als Arzt verwenden, aber ich habe keine Lust, ein Sesselfurzer zu werden. Ich wollte Oberfeldarzt bleiben, aber sie müssten das gegenüber dem Bundesministerium der Verteidigung rechtfertigen. Vielleicht fahre ich nochmal zur See, aber selbst wenn es nicht nochmal geschehen sollte, aus welchen Gründen auch immer, bin ich nicht unglücklich, denn ich hab´s gehabt.

Das Lied von Gehorsam und Ungehorsam war damals aber noch ein anderes:

BUND.

Damals war es Kadaver-Gehorsam. Wenn der Befehl schwachsinnig war, wurde er trotzdem befolgt, weil´s ein Befehl war. Das ist mir damals sehr missfallen, weil es eben meiner Grundeinstellung widersprach: Regeln befolgen, ja, wenn sie sinnvoll sind. Ein Beispiel für Sinnlosigkeit: Mit einer Zahnbürste den Boden saubermachen, das waren Wehrmachtsmaßnahmen. Die Bundeswehr ist eine wesentlich lockerere geworden. Befehl und Gehorsam sind natürlich Grundregeln der Armee. Verweigerung von dienstlichen Befehlen, hat disziplinarische Maßnahmen zur Folge und das muss auch so sein. Zwar bilden sich manche Gehobenere viel auf ihre Uniform ein, aber den Bootsleuten ist das völlig egal: Hauptsache, sie haben einen geilen Arzt an Bord.

PULS.

Ärzte an Bord hatte auch Reimar, auf der wohl größten Reise seines Lebens: der Weg in sein zweites Leben. Ich frage ihn, ob er über die Zeit sprechen möchte, als er sehr krank war:

Du meinst, als ich meine künstliche Körperhauptschlagader bekommen habe? Das war eigentlich eine ulkige Geschichte. Ich wollte Fallschirmspringen.
Altersgrenzen empfehlen Check-Ups. Reimar entscheidet sich für das große Programm beim Kardiologen. „Ich war schon fast raus.“, erzählt er weiter.
Noch schnell der Herz Ultraschall. Und er macht und macht und ich denke mir, Mensch, das dauert aber lange. Und dann sagt der zu mir: „Alter, du hast ein Aorten Aneurysma und zwar eins von der ganz besonderen Sorte. Das geht direkt vom Bulbus aus. Freund der Sonne, du hast eine OP vor dir. Du solltest auf gar keinen Fall springen, das kann für dich tödlich sein. Du solltest auch kein Motorrad fahren.“ Da ist für mich irgendwo mein ganzes Leben zusammengestürzt.

Eine Entscheidung fällt. Er wartet nicht, bis etwas passiert, sondern lässt sich operieren. Doch bevor das geschieht, verbringt er die letzten 12 Stunden in seinem Krankenhaus Bett.

Stell dir vor, jetzt kommt ein Engel an und sagt: Ich habe hier eine Zeitmaschine, du kannst irgendwo in deine Vergangenheit zurückreisen und dein Leben von da an nochmal neu leben. Würdest du nochmal heiraten? Würdest du nochmal so viele Kinder kriegen? Würdest du nochmal Arzt werden? Würdest du nochmal in die erste Praxis gehen. – Die haben dich nach Strich und Faden beschissen, die haben dich ausgenommen. – aber auf der anderen Seite bin ich heute der, der ich bin, weil ich eben auch durch solche Täler der Tränen durchgegangen bin. Und das hat in mir eine tiefe Befriedigung ausgelöst. Und selbst wenn es dich morgen zerlegt, dann hast du ein wertvolles Leben gelebt. Das ist mehr, als die meisten Menschen nach einem 70- bis 80-jährigen Leben von sich behaupten können. Die Nachtschwester hat mich dann geweckt, der OP ist bereit. Da hab ich gesagt: „Ich gehe in mein zweites Leben nicht ungeduscht.“ Dann bin ich mit nassen Haaren in den OP gekommen. Es macht einen demütiger und es macht einen irgendwo auch glücklicher, wenn man solche Phasen überstanden hat. Es hat mich verändert, weil es mir die Vergänglichkeit meines Daseins nochmal vor Augen geführt hat. Es hat mich verändert, weil ich mich fragend zu einer höheren Macht gewendet habe, warum ich so ein Schwein habe, dass das rechtzeitig erkannt wurde und so erfolgreich behandelt. Kaum dass ich wieder angefangen hatte, zu arbeiten, kam ein Patient zu mir, der genau das gleiche hatte. Er war aus dem Krankenhaus geflüchtet. Er erhoffte sich von mir einen Rat. Ich sagte: „Sehen Sie mich hier sitzen?“ Ja klar. „Sind Sie sich sicher? Sie träumen oder schlafen nicht?“ Nee, wieso? „Ich hatte das gleiche wie Sie und wenn Sie mich hier sitzen sehen, dann wissen Sie, wie mein Rat nur sein kann. Lassen Sie sich operieren, Sie sehen, man überlebt das.“ Und er hat es nicht überlebt. Wenn mich das emotional nicht mitnehmen würde, dann würde man kein mitfühlender Arzt mehr sein. Ein Mensch ohne Empathie kann kein Arzt sein.

Eben diese Empathie und das Engagement, sich ehrenamtlich für andere einzusetzen, werden belohnt. Reimar erhält das Bundesverdienstkreuz, für über 20 Jahre ehrenamtliches Engagement.

VERDIENST.

Akademische Lehrpraxis, Lehrbeauftragter bis zu diesem Jahr, Notdienstbeauftragter, Kreisstellenvorsitzender und so weiter… Auch der Grabenkrieg zwischen Krankenhaus und niedergelassenen Ärzten. Diesen Graben habe ich konsequent immer zugeschüttet und hab‘ gesagt: Kommt Leute, wir sind alles Ärzte. Wir sind Hausärzte, Fachärzte, Krankenhausärzte, niedergelassene und Arztrentner. Das ist doch scheißegal. Wir haben eigentlich alle denselben Beruf und dasselbe Ziel, wir gehen nur von unterschiedlichen Standorten aus. Als ich erfahren habe, dass ich das Bundesverdienstkreuz kriege, habe ich mich tierisch gefreut. Das ist eine Wertschätzung, die ganz wenigen Menschen zu Teil wird.

Man darf nicht vom Leben erwarten, dass dir jeden Tag gesagt wird: Du bist ein geiler Macker. Der Trick im Leben, glücklich zu sein, ist, im Kopf die 30% zu 70 zu wandeln. Es hat mich mit Stolz erfüllt. Aber man darf sich um Gottes Willen nichts darauf einbilden. Deswegen bin ich nicht besser, als ganz viele andere Menschen, die jeden Tag ihren Job gut und mit Herzblut machen, die ihre Steuern zahlen, die sich an die Regeln halten – jetzt haben wir wieder den großen Bogen „Gehorsam“ geschlossen – und eben nicht diesen Orden bekommen. Ich hatte das große Glück, vielleicht Sachen zu machen, die andere Menschen nicht machen können. Nie arrogant werden. Arroganz ist immer ein Ausdruck von geistiger Schwäche. Kein Mensch ist besser, als der andere. Nichts macht dich besser, auch kein Geld oder ob du mehr hast. Und man landet auch in derselben kleinen Kiste. Der Weg bis zur Kiste, ist deine Aufgabe. Jeder Mensch kriegt ein Leben geschenkt und die Aufgabe ist es, ein glückliches, erfülltes Leben zu leben. Und das Beste, was man machen kann, ist, jeden Tag aufs Neue das Glück zu suchen.

LEBEN.