wir sollen gehen,
doch bleiben hier
zurechtgewiesen, eingefangen - wer kennt's nicht eltern-kind-beziehung, mensch und tier irgendwie alles gleich und doch wieder nicht in disobedience we do believe, ganz klar gegen deren strich
wir malen mit unseren stiften, nennt uns eigensinnig, nennt uns rebellisch mit 22 noch pubertär, als ob sie's besser wüssten doch hier fällt
viel und vor allem unter'n tisch und dann fallen wir halt aus dem raster sind wir bunt in dem schwarz-weiß dann sind wir anders, als alle gedacht haben denn ohne fleiß kein preis
mit pinsel und farbe mitten an die hauswand mit 'ner spraydose neulich erst vor der polizei weggerannt sah aber gut aus, war wichtig, meine botschaft vielleicht alles nur geträumt, hätte ich in echt nie gemacht „wir müssen gehorsamer sein, dann erhalten wir mehr rechte“ sie stellen regeln auf, die wir dann brechen kann man nicht anfassen, ist nicht echt ungehorsam bringt die konsequenz mit, bringt die bestrafung mit und wenn ich an 'nem freitag mit den demonstranten auf der straße sitz' sind mir regeln ganz egal, wenn's für was gutes ist
recht zur demo,
recht zum streik
ungehorsam ist das nicht,
doch gehorsam sind wir leid
eure definition,
eure regel
doch ohne uns
fehlt euch
der wind zum segeln
wenn ich eigensinnig bin,
ist das nicht was gutes?
ich mach‘ es selbst,
hab‘ die vision und tu‘ es
vielleicht ist es mal wieder nicht systemkonform stehe im strickpulli zwischen uniformen manchmal sollte man über grenzen gehen und wenn's nur die eigenen sind manchmal ist unsere welt für mehr, als das, was gerade ist, bestimmt manchal braucht man die ideen manchmal braucht man die, die sich was trauen manchmal könnte man mehr sehen, als das, vor unseren augen manchmal sind's die ungehorsamen,
In seiner Crew wird er als “Junior” bezeichnet, da er mit 25 Jahren der Jüngste aus der Truppe ist. Seine Hobbies sind zeichnen und sprayen, besser gesagt: “Wir gehen Malen”. Mit seiner Crew, die als CSK (Commando Snitch Killer) bekannt ist und 2014 gegründet wurde, geht er hin und wieder auf Streife um zu sprayen. In der Gruppe befinden sich 5 bis 10 Personen. Manche aktiver, die anderen weniger. In der Gruppe unter sich wird ausschließlich der Gruppen-Name gesprayt und nicht der eigene Künstlername. Hier wird bewusst die Unterschrift weggelassen und teilweise auch die einzelnen Buchstaben, C, S, und K, von unterschiedlichen Personen gesprayt, um die Strafverfolgung zu erschweren. Sie haben deswegen auch lange hin und her überlegt, ob sie eine Online-Präsenz anstreben und waren eher negativ demgegenüber eingestellt. Jedoch haben die meisten Sprayer, die in der Szene sehr bekannt sind, eine Online-Präsenz, weshalb sie sich nun doch für eine solche entschieden haben und veröffentlichten am 01. September sogar ihren ersten Instagram Post.
Junior hat die Fachhochschule im Bereich Gestaltung erfolgreich abgeschlossen und befindet sich derzeit in einem festen Arbeitsverhältnis. Anzumerken ist auch, dass sich alle Crew-Mitglieder in festen Arbeitsverhältnissen befinden, aber der schulische Werdegang stark variiert.
Junior sagt, dass er schon vor der Schulzeit von seiner Mutter stets mit Stiften versorgt wurde und so schnellen Bezug zur künstlerischen Szene erlangt hat. Jedoch fing er verhältnismäßig schnell an, auch fragwürdige Themen zu Papier zu bringen. Er ist in der Grundschule unter anderem im Kunstunterricht aufgefallen, da er zwei sich prügelnde Menschen gezeichnet hat, was die Lehrer gar nicht gefreut hatte.
Es hat alles im 11. Lebensjahr angefangen, also ca. in der 5. Klasse, als ein Freund, den Junior schon seit der Grundschule kennt, mit einem anderen Kollegen einen Abstecher zu einer legalen Wand gemacht hat, um dort zu sprayen. Eines Tages meinte Juniors Freund, dass er doch auch mal mitkommen solle und ist mit den beiden direkt mitgegangen. Vor Ort habe man nach Resten in Spraydosen gesucht, die von vorherigen Sprayern in den Müll geschmissen wurden, um diese noch auf die Wand zu bringen. Aktuell, so meint Junior, hat er mit seinem Grundschulfreund immer noch Kontakt, jedoch ist dieser nicht mehr in der Sprayer-Szene aktiv.
„Ich habe so vieles erlebt.”, sagt Junior. Eines seiner merkwürdigsten Erlebnisse war, als er an der Autobahn an einer Lärmschutzmauer gesprayt hat und zu seinem Kollegen wundernd sagte: „Ist es nicht merkwürdig, dass seit 3 Minuten kein einziges Auto auf einer sonst so viel befahrenden Autobahn entlanggefahren ist?” Sein Kollege meinte nur, dass er weitermachen und sich nichts dabei denken solle. Augenblicke später sehen sie aus weiter Distanz Blaulicht auf sie zukommen und legten sich auf den Boden, um nicht entdeckt zu werden. Es hat sich jedoch herausgestellt, dass nicht sie das Blaulicht verursacht haben, sondern ein Fertig-Haus, was die gesamten Spuren eingenommen und so den Verkehr aufgehalten hat.
„Schon öfter“, sagte Junior mit einem Grinsen im Gesicht. Bei ihm stand, nach einem Ermittlungsverfahren, die Polizei vor der Tür, um seine Sachen einzusammeln, die im Zusammenhang mit seinen Tätigkeiten stehen könnten. Darunter zählen Skizzen, Fotos, sein Handy,
Computer, Bücher und vieles mehr. Diese hat er jedoch nach stolzen 18 Monaten wieder zurückbekommen.
Junior meinte, dass er schon einige Male kurz vorm Sprayen von der Polizei erwischt wurde.
Eines Tages, als er zu einem Industriegebiet gefahren ist, welches sehr abgelegen und eher
selten befahren wird, fährt aus dem nichts ein Polizeiauto vor. Als er und sein Kollege von der
Polizei befragt wurden, konnte sein Kollege die beiden aus der Geschichte rausreden mit den
Worten, dass sie doch nur zu einer Disko gehen wollten, die er glücklicher Weise auch beim
Namen nennen konnte.
Trains
Züge hat Junior schon mehrfach in seiner Sprayer-Laufbahn besprayt. „Rollende Untergründe” sind in der Sprayer Szene sehr hoch angesehen, da dies mit viel Planung verbunden ist. Zusätzlich erwähnte er, dass nicht alle rollenden Untergründe zum Sprayen geeignet sind. Dampfloks stammen nicht aus der Zeit vom Graffiti und man setzt eher rote Züge mit dem Sprayen in Verbindung, weshalb diese auch bevorzugt werden.
Seine krasseste Story ereignete sich aber auf Basis eines spontanen Anrufes von einem Kollegen, welcher wohl recht angesehen in der Sprayer-Szene ist. Junior wurde von ihm mit einem Auto, welches fast in seine Einzelteile zerfällt, abgeholt. Nach stundenlanger Fahrt bemerkte Junior, dass sie sich über holländischen Boden bewegten und es auch schon langsam dunkel wurde. Als sie angekommen sind, ist Junior direkt ein Schlauchboot aufgefallen, was sein Kollege und dessen Truppe mitgebracht hatten. Sie standen vor einem Fluss und dahinter ein Zug, welcher zusätzlich von einem Zaun „geschützt“ wurde. Hier kommt das Schlauchboot ins Spiel. Einer der Gruppe ist zuerst mit dem Schlauchboot über den ca. 5 Meter breiten Fluss gefahren. Dieses Gruppenmitglied hatte das nötige Wissen, um den dahinterstehenden Zaun aufzubrechen. Der Rest der Truppe wurde anschließend über den Fluss gefahren, um ihrer Leidenschaft nachzugehen und den Zug zu besprayen.
In Bezug zum Graffiti kann Junior sagen, dass er anfangs einen Adrenalinkick hatte. Dieser hat sich aber recht schnell durch die Routine relativiert. Die Anspannung, so Junior, kommt eher durch das geringe Zeitfenster während des Sprayens und er sieht seine Leidenschaft eher als Hobby, anstatt eines Bekenntnisses zur Ungehorsamkeit.
Dies kann stark variieren. Wenn man sich einen illegalen Untergrund ausgesucht hat, wird alles von vorne bis hinten durchgeplant. Es gibt sogenannte „Supporter”, welche unter anderem Wache halten, dann muss von jemandem vorher vor Ort recherchiert werden, wann die zuständigen Wachleute ihren Arbeitsplatz verlassen, das Motiv muss von vornherein feststehen und so weiter. Die Planung nimmt viel mehr Zeit in Anspruch, als letztendlich die Aktion. Bei einem illegalen Untergrund spricht man so von ca. 30 – 45 Minuten, bis das Werk fertig sein muss, länger nicht. Bei einem legalen Untergrund kann es mehrere Stunden dauern.
Schwer einzuschätzen meint Junior. Dennoch sagt er, dass er unter Arbeitskollegen teilweise nicht über diverse Sehenswürdigkeiten von Städten oder Ländern mitreden kann, da er die Sehenswürdigkeiten meistens nicht zu Gesicht bekommt, sondern nur Züge, Mauern oder sonstige Dinge die man besprayen kann. Andererseits ist er ein wenig paranoid geworden, da jederzeit die Polizei vor der Wohnung stehen könnte.
Es gibt so einiges, was er noch machen würde. Ihm fehlt nur Zeit und Geld. Er sagte, dass Italien wohl das „Land der Züge” in der Sprayer Szene sei, da man dort entspannt die Züge besprayen kann. In Italien werden die Züge wohl nicht bewacht und auch Überwachungskameras sind eher eine Seltenheit. Deshalb ist das eine der vielen Tätigkeiten, die er machen würde, wenn Zeit und Geld keine Rolle spielen würden.
„Normalerweise halte ich mich an Regeln und bin auch kein Hau-drauf-Typ.”, sagt Junior. Er
kann Gewalt absolut und in jeglicher Form nicht unterstützen. Dennoch kann er jeden verstehen, der ab und zu die Regeln bricht, um außergewöhnliche Dinge zu vollziehen.
Beitrag von Luca Knoop
Ich war selbst noch viel zu klein, als das ich verstand, was genau ich habe und warum ich es habe. Kurz nach meiner Diagnose hatten meine Eltern endlich Gewissheit. Am Anfang der zweiten Klasse war es soweit.
ADHS auch genannt Aufmerksamkeits-Defizit- Hyperaktivitätsstörung ist eine sehr häufig vorkommende Krankheit bei Kindern und Jugendlichen. Knapp 5% der Kinder in Deutschland werden damit diagnostiziert. Die Krankheit zeichnet sich, wie der Name schon sagt, durch Aufmerksamkeit - und Konzentrationsstörungen aus. Häufig kommen ausgeprägte körperliche Unruhe und impulsives/ unüberlegtes Verhalten dazu. Den Betroffenen fällt es oft schwer, sich selbst zu regulieren.
Im Kindergarten gab es schon die ersten Anzeichen meines Fehlverhaltens. Ich war nur für mich, wollte nie an Aktivitäten teilnehmen. Wollte nicht klettern, nichts vorgelesen bekommen, nicht mit den anderen spielen und wirklich nichts tun, als mich mit mir selbst zu beschäftigen.
In der Grundschule wendete sich das Blatt und die Verschlossenheit entwickelte sich in tagtägliches Stören und Aufmerksamkeit suchen. Ich habe im Unterricht nie mitgemacht und lieber mit dem Stuhl gekippelt, meine Sachen zusammengepackt und versucht, andere abzulenken. Meine damalige Klassenlehrerin merkte sehr schnell, das da was nicht stimmt. Noch in der ersten Klasse sagte man meinen Eltern, dass mein Verhalten nicht mehr tragbar sei und sich was ändern müsse. Sie sollten mit mir zum Arzt gehen.
ADHS zeigt sich oftmals zuerst in den alltäglichen Situationen und Strukturen dieser Gesellschaft. Das heißt, sobald ein Kind in den Kindergarten spätestens in die Grundschule muss und sich dort anderen Menschen und den Regeln anpassen sollte, werden die Verhaltensauffälligkeiten deutlich.
Zuerst versuchten meine Eltern mit mir darüber zu sprechen und das Problem von zu Hause aus zu klären. Es selbst in die Hand zu nehmen und dann wird das schon. Meine Verhaltens- und Konzentrationsstörung war jedoch schon so weit ausgeprägt, das es nicht anders ging, als einen Arzt aufzusuchen.
Zu diesem Zeitpunkt wurde mein Verhalten schlimmer. Zu Hause war ich immer aufgebrachter und konnte nie zur Ruhe kommen. Alles was man mir sagte, habe ich ignoriert. Meine Mutter versuchte auf mich einzureden und musste letztendlich bei allem, was ich machen sollte, dabei sein. Morgens aufzustehen, mittags Hausaufgaben machen und Abends wieder ins Bett zu gehen hätte ich von alleine nicht gemacht. Auch nicht nach mehrmaliger Aufforderung. Meine Mutter nahm mich an die Hand und begleitete zu Hause jeden Schritt.
Kindern mit ADHS fällt es sehr schwer die notwendige Fähigkeit der Selbststeuerung zu erlernen. Dafür brauchen sie besondere Unterstützung. Es ist die Struktur und der Tagesplan, der für Kinder mit ADHS sehr wichtig ist. Die konkreten Bedingungen unter denen die Kinder aufwachsen, können den Verlauf der Erkrankung stark beeinflussen. Die Bewältigung alltäglicher Anforderungen, wie Anziehen, Essen oder Erledigung der Hausaufgaben bedarf ständiger Kontrolle.
Etwas zu verbieten und mich zu bestrafen, war jedoch auch nicht der richtige Weg. Ich bin ausgeflippt und habe oftmals um mich geschlagen, gegen die Tür getreten und laut aufgeschrien. Meine Mutter konnte mich nicht beruhigen. Sie musste mich mit beiden Armen umklammern und festhalten.
ADHS Betroffene verstehen oft selbst nicht, was los ist, was sie falsch machen. Auch wenn das Verhalten häufig auf Unverständnis stößt, können durch Strafen, Ermahnung und Appelle keine Veränderungen erreicht werden.
Es folgte der Arztbesuch. Nach der ersten Untersuchung wurde die Konzentrationsschwäche bereits festgestellt. Die Frage, die man sich nun stellt: Wie konnte man mich dazu bringen, weniger zu stören? Mir wurde Ritalin verschrieben. Ab jetzt hieß es: Tabletten, jeden Tag, für die nächsten sechs Jahre. Morgens vor der Schule. Die Wirkung hielt bis zum Nachmittag an und dann sollte man Tablette Nummer zwei nehmen. Meine Mutter wollte nicht, das ich so mit Tabletten vollgepumpt werde. Also nahm ich nur eine am Tag.
Ritalin ist ein verschreibungspflichtiges Medikament. Es wirkt anregend, unterdrückt Müdigkeit und wirkt antriebs- und leistungssteigernd. Das macht es jedoch auch zu einer beliebten Droge bei Jugendlichen und Studenten, die Ritalin zum Lernen missbrauchen. Ritalin heilt ADHS nicht, sondern unterdrückt lediglich die Symptome, die mit dieser Störung einhergehen. Das Medikament muss also dauerhaft eingenommen werden.
Mit den Tabletten wurde es besser. Sobald die Wirkung im laufe des Tages nachlies, wurde ich aber wieder zum Unruhestifter. Es half also nur, solange ich unter der Wirkung stand. Dem waren sich meine Eltern bewusst und sie nahmen es in kauf, damit ich nicht noch eine Tablette mehr nehmen muss. Jeden Freitag gab es ein Gespräch, zwischen meiner Klassenlehrerin und meinen Eltern, mein Verhalten wurde beobachtet. In der Schule lief es. Ich fiel weniger auf, meine Noten wurden besser. Ich habe mich besser integriert.
In der achten Klasse habe ich die Tabletten aus eigenem Willen nicht mehr nehmen wollen. Ich sagte, dass ich sie nicht mehr nehmen möchte und nicht darauf angewiesen sein will, mich nur durch Tabletten konzentrieren zu können. Nur mit Tabletten Teil der Gesellschaft zu sein. Meine Leistungen fielen in folge dessen jedoch sehr schnell wieder ab. Meine Eltern waren besorgt, dass ich in eine Unzufriedenheit abrutsche und sehr schnell merke, dass ich alleine nicht klar komme.
Nach anfänglichem Tief schaffte ich es aber, meine Konzentration über den Tag aufrechtzuerhalten. Ich habe es geschafft, von alleine zu lernen und mein großes Glück war die frühe Erkennung im Kindesalter durch Unterstützung meiner Eltern und Klassenlehrerin. Auch wenn es ab dem Zeitpunkt der Erkennung noch bis zur achten Klasse angedauert hat, war es wichtig, das Problem so schnell und so lange anzugehen. Nur dadurch konnte ich mich ab einem gewissen Alter selbst fangen und es von mir aus schaffen, meinen Alltag zu gestalten und mich auf die wichtigen Dinge zu fokussieren. Denn bei einem großen Teil der Betroffenen nehmen die Symptome nach richtiger Behandlung mit Beginn der Pubertät ab.
War ich in folge dessen ein ungehorsames Kind?
Andere würden sagen, ich war ungehorsam. Kinder werden in den Augen anderer als ungezogen und unartig bezeichnet, obwohl sie für ihr Verhalten selbst nichts können. Aus Sicht der Gesellschaft ist es eine Art der Ungehorsamkeit, da man nicht das macht, was verlangt wird. Da man in der Schule nicht richtig aufpasst, den Unterricht stört und andere ablenkt.
Denn aus meiner Sicht war ich alles andere als ungehorsam. Ich habe mich nur so verhalten, wie es eben aus mir rauskam. Ich konnte nichts für mein Verhalten. So auch jeder andere Mensch mit dieser Krankheit. Ungehorsam aus Sicht der Gesellschaft – ein normales Kind aus der eigenen Sicht.
Moritz
Mit 14 habe ich das erste Mal Alkohol getrunken und dachte mir nur "whoaa, DAS ist möglich??" Schon vorher hatte ich mich aus Neugier in das Thema eingelesen, aber das Erlebnis überstieg für mich die Grenze des Vorstellbaren. Wie beschreibt man einer Person die Wirkung von Alkohol, die noch nie welchen getrunken hat? Meine Faszination war geweckt und ich wollte die Wirkung anderer Stoffe erleben.
Beeinflusst von der Musik und Kulturindustrie, haben wir mit 15 Jahren das erste Mal Gras geraucht. Cannabis dürfte die am weitesten verbreitetste illegale Droge sein und gilt generell auch als harmloseste. Für mich war die treibende Kraft hinter der Kifferei die Neugier. Was passiert mit meinem Körper? Wie fühle ich mich dabei? Wie verändert sich meine Wahrnehmung? Nach mehrmaligem Kiffen und Alkoholkonsum stieg mein Interesse weiter und ich nahm mir vor, mal in alles Mögliche reinzuschnuppern. Ich wollte wissen, wie die unterschiedlichen Drogen wirken, wie ich und mein Körper darauf reagieren.
Tim
Die erste wirklich starke Reaktion hatten wir auf Ritalin. Das ist eigentlich ein Medikament gegen ADHS. Wegen der Wirkung gilt Ritalin auch als die Studentendroge. Du bleibst wach und kannst dich länger konzentrieren. Zum Lernen würde ich das aber nicht empfehlen. Bei großen Mengen kann dich Ritalin extrem aufputschen.
Den ersten Kontakt mit Ritalin hatten wir mit 16 auf irgendeiner Hausparty. Da hatte jemand Rita am Start und wir haben das halt gezogen.
Und natürlich mit Alkohol kombiniert, klar.
Nee! Beim ersten Mal war ich glaub ich wirklich vorsichtig.
Aber das bisher krasseste Erlebnis hatte ich mit Ecstasy. Weil das eine wirklich starke Gemütsveränderung mit sich gebracht hat. So richtig intensiv. Deine Gefühle gegenüber anderen Menschen ändern sich. Plötzlich kannst du tiefsinnige und gefühlvolle Gespräche führen, was du dich vorher einfach nicht getraut hast.
Und die Musik in deinem Körper. Bamm, einfach ein brutales Gefühl.
Wir machen gerade voll Werbung. Wir müssen sagen, dass wir immer Glück hatten und nicht auf irgendwelchen negativen Sachen hängen geblieben sind. Einen schlechten Trip hatten wir bisher nie.
Neben Neugier macht uns der Konsum von Drogen auch einfach Spaß. Für uns ist das wie ein Ausflug ins Schwimmbad oder in den Freizeitpark. Man kann natürlich auch Spaß haben ohne diese Dinger, aber für uns sind sie einfach ein Tool zum Spaß haben.
An die Drogen zu kommen, war super easy. Das hat sich einfach rumgesprochen: "Der verkauft Gras."
War halt ein Kumpel, der älter war als wir. Und der hat Gras verkauft. Irgendwann hatten wir dann einen anderen Kumpel, der da tiefer in der Szene war und anderes Zeug verkauft hat.
Wenn du auf der Suche bist, wirst du früher oder später was finden. Beim Feiern, einfach erkundigen, ob jemand was hat. Irgendwer hat immer was oder kann was besorgen.
Also wir waren jetzt nicht im Park und uns hat jemand angequatscht. Sowas kaufen wir nicht, das wäre dumm.
Abhängig wirst du, wenn du das Zeug zu oft nimmst. Das ist wie bei Alkohol.
Ich würde sagen, zu Gras haben wir schon einen gewissen Hang. Aber der ist noch deutlich niedriger als mein innerer Suchtdruck zu Zigaretten. Auf Gras kann ich leichter mal verzichten. Du willst auch einfach nicht die ganze Zeit high sein. Wenn du am Morgen anfängst und den ganzen Tag durchkiffst und den „nächsten Tag wieder, dann am nächsten Tag wieder, ‒
..dann am nächsten Tag, ‒
..eine Woche geht das klar, doch dann kommt das Desaster. Ich hab für den Rest des Monats kein Essen und kein Gras da.“* Für einen Tag rumgammeln ist mal cool, aber nach drei Tagen merkst du dann, dass du die letzten Tage einfach gar nichts geschafft hast. Das ist auf Dauer nicht erfüllend. Da sind wir nicht die Typen für. Daher ist es dann relativ einfach mit Gras aufzuhören. Bei anderen Drogen, die dich möglicherweise körperlich abhängig machen, ist das natürlich eine ganz andere Sache.
Deswegen achten wir bei solchen starken Drogen darauf, mehrere Wochen oder Monate Pause zwischen den Einnahmen zu machen. Du kannst noch so willensstark sein, irgendwann wirst du abhängig, wenn du das Zeug zu oft nimmst.
Bevor wir irgendwelche Drogen nehmen, informieren wir uns vorher natürlich. Was sind die Gefahren? Womit sollte man die auf keinen Fall mischen? Und so weiter. Wir gehen da schon vorsichtig ran, denke ich. Außerdem konsumieren wir Drogen nie aus schlechter Laune heraus und am besten nicht alleine.
Am besten auf gar keinen Fall alleine!
Anfangs war das noch super aufregend, etwas Illegales zu tun. Man raucht die ersten Joints und hat total Angst erwischt zu werden. Mittlerweile ist es nur noch nervig, weil ich wegen so nem Scheiß nicht in Konflikt mit dem Gesetz geraten will.
Das Adrenalin hat anfangs schon eine große Rolle gespielt. Da haben wir noch richtige Filme geschoben. Inzwischen ist es wirklich nur noch nervig. Wobei ich mittlerweile nicht mal mehr wirklich panisch wäre, wenn man mich erwischt. Bei den kleinen Mengen, die wir bei uns haben, wird das eh alles wieder fallengelassen. Du bekommst halt nur nen Brief, das wars.
Und dir wird das Gras weggenommen, das ist bei der Sache eigentlich viel nerviger.
Der Konsum von Drogen ist ja erstmal nicht strafbar, der Besitz schon. In Bezug auf Cannabis hoffe ich, dass sich die Lage bald ändert. Durch die Illegalisierung findet keine Kontrolle statt. Man kauft praktisch immer auf gut Glück. Teilweise ist das Gras viel zu potent. So eine starke Wirkung möchte ich häufig gar nicht. Außerdem kannst du nicht wissen, was genau in dem Gras ist, das du kaufst. Da können momentan Stoffe drin sein, die zu Psychosen führen, dich super schnell abhängig machen oder dir auch körperlich schaden können. Und im Extremfall stirbst du halt davon.
Und es ist nicht sinnvoll, Leute dafür zu bestrafen, dass sie abhängig sind. Bei den Konsumierenden anzusetzen, ist falsch. Meistens sind das Menschen mit Problemen, denen man eigentlich helfen müsste. Stattdessen werden sie strafrechtlich verfolgt, landen im Gefängnis und deren Zustand verschlechtert sich noch
Außerdem sind Drogen eine riesige Einnahmequelle für das organisierte Verbrechen. Im Zweifel finanziert man durch den Kauf irgendwelche Terrororganisationen mit. Trotzdem denke ich nicht, dass man einfach so alle Drogen legalisieren sollte. Da ist die Contra-Liste nun doch zu lang.
Es ist ein schwieriges Thema.
Gäbe es die Option, in einer Welt ohne Drogen zu leben, würde ich die bevorzugen, glaube ich.
Ich auch. Was man nicht kennt, kann man nicht missen.
Auf das Thema „Ungehorsam“ angesprochen, würde ich vermutlich Folgendes antworten: „Ich habe kein Problem mit Gehorsam, so lange die Regeln, die ich zu befolgen habe, mir einleuchten. In dem Moment, wo ich sage, das ist ja völliger Blödsinn, halte ich mich auch einfach nicht an die Regeln.“
Was früher bloßes Grenzen Austesten im Straßenverkehr war, statt 80 km/h bei trockener freier Straße 140 km/h zu fahren, ist heute anders, sagt Reimar.
Man testet natürlich aus, ob man Regeln nicht ein bisschen umbiegen kann. Und ich glaube, würde man das nicht machen, dann hätte die Menschheit noch nicht das Rad erfunden.
Früher hätte er sie einfach überschritten, doch heute:
Heute versuche ich sozusagen in einer Diskussion mit den Regelgebern auszuloten: Warum sind die Regeln so und wäre es nicht viel sinnvoller, die Regeln abzuändern? Ich bin ruhiger geworden.
Wie an seinem Titel unschwer zu erkennen, ist Reimar Arzt von Beruf. Ich möchte wissen, wie es dazu kam, dass er diesen Weg eingeschlagen hat. Der Auslöser:
Ganz ulkiger Weise die Ölkrise in den 70er Jahren. Das hat mich damals als Kind fürchterlich geschockt und ich habe gedacht: Wenn irgendwie gar nichts mehr geht, wen braucht man auf jeden Fall? Und da fiel mir ein: Arzt. Ich wollte irgendwann auch mal Pilot werden, war dann schon 1,92 m groß und habe an die Lufthansa geschrieben.
Die Antwort kam schnell: „Mit 1,92 m können Sie´s nicht werden.“ Also folgte er dem Gedanken im Hinterkopf und ist heute sehr dankbar, diesen wunderbaren Beruf erlernt haben zu dürfen. Doch die jahrelange Arbeit stellt auch Aufgaben und ebnet den Weg für Kollisionen mit den ein oder anderen Richtlinien. Aber widersetzen?
Ich sage immer zu den Medizinstudent*innen, die bei mir ausgebildet werden: Es gibt eben nicht das große Buch des Menschen, es wird permanent neu geschrieben, in allen Kapiteln. Und irgendwelche Regeln oder Richtlinien, die wir heute haben, sind dank Forschung und neuen Studien morgen schon Makulatur.
Insbesondere mit den Leitlinien der Wiederbelebung geht Reimar anfangs nicht konform. Was für ihn zählt: Leben retten, um jeden Preis.
Wenn ich jetzt irgendwo vor Ort bin und da liegt ein Mensch Puls los, mit anderen Worten klinisch tot, hat keine sicheren Zeichen des Todes: Rock’n’Roll. Dann fange ich an.
In erster Linie sind die Patienten so sauer vom pH-Wert, Adrenalin wirkt in dem Moment kaum noch. Ich puffer die meisten blind vor und ich kriege sie auch eigentlich alle wieder. Das hat mich damals wahnsinnig stolz gemacht und dachte immer, seht her, ich bin hier der geilste Macker von allen.
Doch nicht jede Reanimation ist folgenlos. Als Reimar einmal begann, nachzufragen, wird ihm zugetragen:
Ja, er hat zwar überlebt, aber einen mächtigen Hirnschaden. Dieser Patient wird nie wieder ein unabhängiges, lebenswertes Leben führen. Da habe ich dann über meine Regelüberschreitungen nachgedacht - Vielleicht hat man diese Regeln auch aufgestellt, um genau das zu verhindern. Soll heißen, mit einer gewissen Aggressivität kriegst du zwar die Menschen wiederbelebt, aber vielleicht nicht unbedingt zu ihrem Besten.
Tatsächlich passiert es regelmäßig. Es kommt ein Patient mit Beschwerden in die Praxis und du weißt, wie du ihm helfen könntest. Aber du darfst es nicht mit den Medikamenten machen, weil dieses Medikament für genau diese Indikation gar nicht zugelassen ist. Das heißt, manchmal muss man die Diagnosen etwas weiter fassen, damit man die Behandlung genehmigen kann.
Ja, in gewisser Weise ist es ungehorsam, dass ich dann dem Patienten ein bisschen die Diagnose frisiere, um ihm das Medikament verordnen zu dürfen.
Mit zweimal Zwillingen im Abstand von einem Jahr hat sich sein Leben schlagartig verändert. Mit seinen 4 Kindern fühlt es sich an, als hätte man jeden Tag Kindergeburtstag. Doch einen Punkt gibt es, wo Reimar den jungen Menschen mehr Ungehorsam raten würde.
Ich habe mich eigentlich immer auf die Zukunft gefreut. Ich habe nie Angst vor der Zukunft gehabt, weil ich mir immer gesagt habe, dass ich meine Fähigkeiten kenne und weiß, dass ich es schaffen kann, Probleme aus dem Weg zu räumen.
Bei euch jungen Menschen finde ich häufig so eine Angst vor der Zukunft, wo ich mir sage: Ihr müsst keine Angst haben, ihr habt doch Fähigkeiten und ihr seid nicht allein. Geht raus in die Welt und erobert sie euch und macht sie ein Stück besser. Sorgt dafür, dass die Leute nicht weiterhin ungeniert Waffen produzieren, Öl verbrennen und so weiter. Terrorisiert uns mit euren Forderungen. Geht raus und tut´s. Ihr werdet feststellen, man fällt fünf Mal auf die Fresse, aber sechs Mal gewinnt man.
Es ist so, von 10 Menschen haben 3 den Kopf zu mehr, als zum Haare waschen, aber mit den anderen 7 muss man irgendwo auch zurechtkommen. Und wenn du positiv gestimmt durchs Leben gehst, dann schaffst du es, im Kopf so umzuswitchen, dass die 3 Vernünftigen dir vorkommen, wie die 70%.
Zeit hat man nicht, Zeit muss man sich nehmen. Wir haben alle keine Zeit. Wir entscheiden irgendwann für uns selber, ob wir uns Zeit nehmen wollen oder nicht. Und ulkiger Weise ja, das geht damit einher, dass du etwas weniger Geld verdienst, aber auf der anderen Seite ein glücklicherer Mensch wirst. Und wenn du glücklicher wirst, dann guckst du mit Bedauern auf die armen Schweine, die zwar ein viel fetteres Bankkonto haben, aber so viel unglücklicher sind.
Nicht nur in seiner Hausarztpraxis in Pahlen, in der er seit mehr als 11 Jahren tätig ist, geht Reimar seiner Berufung nach. Über 14 Jahre dient er der Bundeswehr als Reservist, nahm an 3-4 Wehrübungen im Jahr teil. Doch wie kam es dazu?
Ich fand die Bundeswehr damals ganz furchtbar. Ich war in der Panzergrenadiereinheit, absolute Rödel Truppe. Wir hatten noch Ausbilder, die irgendwo Neonazis waren. Das war damals noch eine Kadaver-Armee. Also Befehl und Gehorsam bis zum Abwinken. Und dann, Jahre später, treffe ich auf einer Fortbildungsveranstaltung, in einem scheißverschneiten Februar, in Bad Segeberg, einen Arzt. Wir alle laufen wie die Mehlwürmer rum und er ist braungebrannt. Ein
niedergelassener Arzt, aber Reservist für die Bundeswehr. Dann habe ich kackfrech an die Bundeswehr geschrieben und meine Expertise angeboten.
Vielleicht hat das so ein bisschen was mit Abenteuer zu tun und die Regeln zu biegen. Normalerweise bin ich mit meinen zwei Metern Ortdienst-verwendungsuntauglich. Aber weil es nicht genügend Ärzte gibt, auch besonders keine Ärzte, die Bock haben, auf einer Fregatte einzusteigen, sind die ganzen Regeln zwar weiterhin existent, werden aber gerne mit einer Ausnahmegenehmigung außer Kraft gesetzt. Zur See zu fahren, das hat schon was.
Die Bundeswehr eröffnet Reimar, dass sie ihn für eine Beförderung zum Oberstarzt vorsehen, die höchste Stelle, die als Reservist erreichbar ist. Das bedeutet, dass seine Expertise zukünftig nur noch als Fachlehrer gebraucht wird und für Arbeit im Stab. Dazu findet er klare Worte:
Das will ich nicht. Ihr könnt mich als Arzt verwenden, aber ich habe keine Lust, ein Sesselfurzer zu werden. Ich wollte Oberfeldarzt bleiben, aber sie müssten das gegenüber dem Bundesministerium der Verteidigung rechtfertigen. Vielleicht fahre ich nochmal zur See, aber selbst wenn es nicht nochmal geschehen sollte, aus welchen Gründen auch immer, bin ich nicht unglücklich, denn ich hab´s gehabt.
Das Lied von Gehorsam und Ungehorsam war damals aber noch ein anderes:
Damals war es Kadaver-Gehorsam. Wenn der Befehl schwachsinnig war, wurde er trotzdem befolgt, weil´s ein Befehl war. Das ist mir damals sehr missfallen, weil es eben meiner Grundeinstellung widersprach: Regeln befolgen, ja, wenn sie sinnvoll sind. Ein Beispiel für Sinnlosigkeit: Mit einer Zahnbürste den Boden saubermachen, das waren Wehrmachtsmaßnahmen. Die Bundeswehr ist eine wesentlich lockerere geworden. Befehl und Gehorsam sind natürlich Grundregeln der Armee. Verweigerung von dienstlichen Befehlen, hat disziplinarische Maßnahmen zur Folge und das muss auch so sein. Zwar bilden sich manche Gehobenere viel auf ihre Uniform ein, aber den Bootsleuten ist das völlig egal: Hauptsache, sie haben einen geilen Arzt an Bord.
Ärzte an Bord hatte auch Reimar, auf der wohl größten Reise seines Lebens: der Weg in sein zweites Leben. Ich frage ihn, ob er über die Zeit sprechen möchte, als er sehr krank war:
Du meinst, als ich meine künstliche Körperhauptschlagader bekommen habe? Das war eigentlich eine ulkige Geschichte. Ich wollte Fallschirmspringen.
Altersgrenzen empfehlen Check-Ups. Reimar entscheidet sich für das große Programm beim Kardiologen. „Ich war schon fast raus.“, erzählt er weiter.
Noch schnell der Herz Ultraschall. Und er macht und macht und ich denke mir, Mensch, das dauert aber lange. Und dann sagt der zu mir: „Alter, du hast ein Aorten Aneurysma und zwar eins von der ganz besonderen Sorte. Das geht direkt vom Bulbus aus. Freund der Sonne, du hast eine OP vor dir. Du solltest auf gar keinen Fall springen, das kann für dich tödlich sein. Du solltest auch kein Motorrad fahren.“ Da ist für mich irgendwo mein ganzes Leben zusammengestürzt.
Eine Entscheidung fällt. Er wartet nicht, bis etwas passiert, sondern lässt sich operieren. Doch bevor das geschieht, verbringt er die letzten 12 Stunden in seinem Krankenhaus Bett.
Stell dir vor, jetzt kommt ein Engel an und sagt: Ich habe hier eine Zeitmaschine, du kannst irgendwo in deine Vergangenheit zurückreisen und dein Leben von da an nochmal neu leben. Würdest du nochmal heiraten? Würdest du nochmal so viele Kinder kriegen? Würdest du nochmal Arzt werden? Würdest du nochmal in die erste Praxis gehen. – Die haben dich nach Strich und Faden beschissen, die haben dich ausgenommen. – aber auf der anderen Seite bin ich heute der, der ich bin, weil ich eben auch durch solche Täler der Tränen durchgegangen bin. Und das hat in mir eine tiefe Befriedigung ausgelöst. Und selbst wenn es dich morgen zerlegt, dann hast du ein wertvolles Leben gelebt. Das ist mehr, als die meisten Menschen nach einem 70- bis 80-jährigen Leben von sich behaupten können. Die Nachtschwester hat mich dann geweckt, der OP ist bereit. Da hab ich gesagt: „Ich gehe in mein zweites Leben nicht ungeduscht.“ Dann bin ich mit nassen Haaren in den OP gekommen. Es macht einen demütiger und es macht einen irgendwo auch glücklicher, wenn man solche Phasen überstanden hat. Es hat mich verändert, weil es mir die Vergänglichkeit meines Daseins nochmal vor Augen geführt hat. Es hat mich verändert, weil ich mich fragend zu einer höheren Macht gewendet habe, warum ich so ein Schwein habe, dass das rechtzeitig erkannt wurde und so erfolgreich behandelt. Kaum dass ich wieder angefangen hatte, zu arbeiten, kam ein Patient zu mir, der genau das gleiche hatte. Er war aus dem Krankenhaus geflüchtet. Er erhoffte sich von mir einen Rat. Ich sagte: „Sehen Sie mich hier sitzen?“ Ja klar. „Sind Sie sich sicher? Sie träumen oder schlafen nicht?“ Nee, wieso? „Ich hatte das gleiche wie Sie und wenn Sie mich hier sitzen sehen, dann wissen Sie, wie mein Rat nur sein kann. Lassen Sie sich operieren, Sie sehen, man überlebt das.“ Und er hat es nicht überlebt. Wenn mich das emotional nicht mitnehmen würde, dann würde man kein mitfühlender Arzt mehr sein. Ein Mensch ohne Empathie kann kein Arzt sein.
Eben diese Empathie und das Engagement, sich ehrenamtlich für andere einzusetzen, werden belohnt. Reimar erhält das Bundesverdienstkreuz, für über 20 Jahre ehrenamtliches Engagement.
Akademische Lehrpraxis, Lehrbeauftragter bis zu diesem Jahr, Notdienstbeauftragter, Kreisstellenvorsitzender und so weiter… Auch der Grabenkrieg zwischen Krankenhaus und niedergelassenen Ärzten. Diesen Graben habe ich konsequent immer zugeschüttet und hab‘ gesagt: Kommt Leute, wir sind alles Ärzte. Wir sind Hausärzte, Fachärzte, Krankenhausärzte, niedergelassene und Arztrentner. Das ist doch scheißegal. Wir haben eigentlich alle denselben Beruf und dasselbe Ziel, wir gehen nur von unterschiedlichen Standorten aus.
Als ich erfahren habe, dass ich das Bundesverdienstkreuz kriege, habe ich mich tierisch gefreut. Das ist eine Wertschätzung, die ganz wenigen Menschen zu Teil wird.
Man darf nicht vom Leben erwarten, dass dir jeden Tag gesagt wird: Du bist ein geiler Macker. Der Trick im Leben, glücklich zu sein, ist, im Kopf die 30% zu 70 zu wandeln. Es hat mich mit Stolz erfüllt. Aber man darf sich um Gottes Willen nichts darauf einbilden. Deswegen bin ich nicht besser, als ganz viele andere Menschen, die jeden Tag ihren Job gut und mit Herzblut machen, die ihre Steuern zahlen, die sich an die Regeln halten – jetzt haben wir wieder den großen Bogen „Gehorsam“ geschlossen – und eben nicht diesen Orden bekommen. Ich hatte das große Glück, vielleicht Sachen zu machen, die andere Menschen nicht machen können. Nie arrogant werden. Arroganz ist immer ein Ausdruck von geistiger Schwäche. Kein Mensch ist besser, als der andere. Nichts macht dich besser, auch kein Geld oder ob du mehr hast. Und man landet auch in derselben kleinen Kiste. Der Weg bis zur Kiste, ist deine Aufgabe. Jeder Mensch kriegt ein Leben geschenkt und die Aufgabe ist es, ein glückliches, erfülltes Leben zu leben. Und das Beste, was man machen kann, ist, jeden Tag aufs Neue das Glück zu suchen.